Rotweinflecken
Rotweinflecken, Kant, Weinmaler
21 January 2015 / Wein & Kunst
Rotwein verschüttet auf der Tischdecke. Und dann noch die gute des sonntäglichen Mittagstisches. Da hieß es, in die Küche laufen, das Salzfass ergreifen und sofort die Unfallstelle ausgiebig mit Salz zu bestreuen. »Jetzt lass es wirken«, sagte meine Großmutter, welche die Rettungsaktion dirigierte, »Du wirst sehen, wie es das Salz frisst«. Neugierig wartete ich, dass sich das Wunder vollzöge. Sah Großmutter nicht hin, steckte ich auch mal den Finger rein und zog zum Zeitvertreib ein paar Linien und Kreise, malte eine Kuh oder einen Baum. In der Zwischenzeit konnte ich beobachten, wie das Weis des Salzes allmählich sich in zartes Rosa verwandelte. »Jetzt frisst es das Salz«, dachte ich, und war begeistert. Ich glaubte fest daran. Großmutter hatte es gesagt und das reichte. Erst Jahre später lernte ich, dass es sich um eine ebenso populäre wie falsche Theorie handelte. Salz absorbiert wohl die Flüssigkeit des Weines aber es fixiert auch dessen Farbe. Was bleibt, ist immer ein Fleck. Mit der Zeit verliert er sein lebhaftes Rot, aber wie eine kleine, rötlich-braune Insel behauptet er sich inmitten des reinen Weis des Leintuches. Untilgbar und ewig. Wie die Worte der Großmutter.
II
Immanuel Kant liebte Wein. Nicht, dass er gleich eine ganze Philosophie daraus machte wie sein Kollege Plato im Symposion aber beim Mittagsmahl durfte Wein nicht fehlen. Eines Tages befindet sich der Königsberger Philosoph in Gesellschaft einiger preußischer Offiziere, man isst zu Mittag. Da er schwere geistige Kost beim Essen für unbekömmlich hält, sind philosophische Themen tabu. Man plaudert galant über dies und jenes und kommt schließlich auf eine historische Schlacht zu sprechen. Unterschiedliche Meinungen gibt es mehrere, das Gespräch erhitzt sich und Worte fliegen hin und her wie Kanonenkugeln.
Da passiert das Undenkbare: ein junger Offizier macht ein rasche Bewegung mit der Hand und stößt dabei ein Weinglas um. Totenstille an der Tafel. Ein kleiner, roter See breitet sich unaufhaltsam auf der Tischdecke aus. »Das warʹs, Ende der Karriere«, wird der unselige Offizier gedacht haben. Keiner wagt sich zu rühren. Außer Kant, der gießt aus seinem Glass noch etwas hinzu, steckt seinen Zeigefinger in die sich ausbreitende Weinlache und zieht eine gerade Linie aus. »Also Herr Oberst, wenn ich Sie richtig verstanden habe, standen die feindlichen Truppen in etwa hier« setzt Kant an, »während die Infanterie«, fügt er hinzu, seinen Finger erneut in den Wein tauchend und mit rascher Bewegung einige rote Tupfer vor der gerade eben markierten Front verteilend, »in diesen Stellungen verharrte«. Alle lachen. Der Wein hatte einen Flecken auf der Tischdecke gelassen aber der Philosoph hatte seinem Gast eine reine Weste erhalten.
III
Ein Finger im Fleck macht noch keinen Künstler. Um Kunst zu werden, muss der Fleck sich weiter verwandeln, gewollte Form annehmen. So kommt er zur Sprache.
Auf der Suche nach künstlerischen Weinflecken geht meine Reise von Königsberg in die Vereinigten Staaten, nach Portland, zu Amelia Fais Harnas.
In einer Reihe ihrer jüngsten Werke, zumeist Portraits, verwendet die Künstlerin Wein als Farbe. Ihr Verfahren ist einfach: auf Leinwand, Baumwolle oder Seide skizziert sie zunächst die Umrisse der Gesichter bevor sie die weiß bleibenden Stellen ihrer Weinbilder mit geschmolzenem Wachs bestreicht. Darauf folgt der erste Guss mit Wein. Französische Sorten wie Côtes du Rhône oder der aus Malbec (Auxerrois), Merlot und Tannat, besonders farbintensiven Trauben erzeugte Cahors, sind ihre Favoriten. Im steten Wechsel von Wachs und Wein entstehen die subtilen Schattierungen, welche den Weinportraits ihren eigenartigen Zauber verdanken.
Chaos und Kontrolle, in scheinbar wohl definierte Grenzen gesetzte Farbtupfer und Formen, die sich dennoch immer wieder im Unbestimmten, in fließenden Schatten verlieren. Fais Harnas Weinportraits sprechen von Gegensätzen, von Lichtflecken und Schattenzonen, von Sphären, die getrennt bleiben und doch zueinander finden.
IV
Die Verabredung mit der Malerin Elisabetta Rogai ist unproblematisch. „Gerne, wann möchten Sie denn auf einen «caffè» vorbeikommen?“ antwortet die Künstlerin auf meine per email gesendete Anfrage. In ihrem Atelier in der Florentiner Vorstadt tauche ich in eine mir neue Zwischenwelt. Es geht um Wein, aber nicht nur. Die Nase als Orientierungsmittel nützt hier kaum. Und es geht um Kunst, aber nicht nur. Die Augen melden das Ungewöhnliche. Plane Striche und zu dicken Schlieren sich verdichtende, rötlich-braune Linien. Fruchtsaft oder gar geronnenes Blut?
Ich bin versucht, die Probe auf den Pudding zu machen und einfach reinzubeißen. Die Künstlerin kommt dem zuvor, indem sie mir ein Glas mit einer dunkelroten, fast schwarzen Creme vor die Nase hält. „Riechen Sie mal, was meinen Sie?“ Nur zu gerne würde ich nun etwas wahrnehmen, das an schwarze Beeren, Nelken oder Tabak erinnert, aber das Aromagedächtnis streikt. Brunello, Barolo oder Nero d’Avola, was auch immer hier eingedickt wurde, hat sich in eine ebenso unergründliche wie faszinierende Substanz verwandelt.
Zum Malen verdünnt Elisabetta Rogai die zähe Masse mit frischem Wein. Nach einer Vorzeichnung mit einem aus Rebenholz gewonnenen Kohlestift trägt sie in raschen Strichen die Weinfarbe auf die Leinwand. Oft geschieht dies außerhalb des Ateliers, im Freien oder als Event unter den neugierigen Blicken der Besucher von Weinmessen. Das fertige Werk ist eine Momentaufnahme des Wirklichen und Imaginären, ein nicht endenwollendes Spiel mit starken Farbkontrasten. Der englische Maler Lucian Freud steht unverkennbar im Hintergrund. Dessen Mittel, die Ölfarben, versprechen lange Dauer. Von den Weinbildern wissen wir vorerst nur, dass Feuchtigkeit ihr Feind ist. Vielleicht halten sie nur einige Jahre. Wer weiß. Mit Sicherheit aber verändern sich ihre Farben im Kontakt mit Sauerstoff und Licht. Wie der Wein, spannend in ihrem Wandel durch die Zeit.
Ulrich Kohlmann